8. Dezember 2014 - Wie sicher sind Antikörper gegen Migräne?

Etwa jeder zehnte Einwohner Deutschlands leidet unter Migräne. Medikamente lindern bislang die Symptome, Anfälle verhindern sie kaum. Viele Arzneimittel sind mit Nebenwirkungen verbunden. Bei der Suche nach neuen Wirkstoffklassen könnten monoklonale Antikörper, genauer: humanisierte Anti-CGRP-Antikörper,

eine neue Ära in der Migränetherapie einleiten. Bereits mindestens fünf Firmen hatten orale CGRP-Antagonisten primär zur Akuttherapie der Migräne entwickelt – und aus Sicherheitsgründen wieder aufgegeben, so Professor Hans-Christoph Diener von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Eine aktuelle Phase-2-Studie hat nun neue Hinweise auf die prophylaktische Wirksamkeit und Sicherheit erbracht: „Nach einmaliger intravenöser Gabe des Antikörpers ALD403 nahm die Zahl der Migränetage geringfügig, aber statistisch signifikant stärker ab als unter einem Scheinmedikament“, erklärt PD Dr. Stefanie Förderreuther, Generalsekretärin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Um die Sicherheit der Behandlung zu gewährleisten, müssten aber weitere Studien folgen.

Der Antikörper ALD403 wurde entwickelt, um die Konzentration des „Calcitonin-Gen verknüpften Peptids“ (CGRP) zu verringern, ein Eiweißmolekül, das während Migräneattacken freigesetzt wird und möglicherweise durch die Erweiterung der Hirnarterien die Schmerzattacken verstärkt.

An der aktuellen Studie, die eine Arbeitsgruppe um David W. Dodick, Professor für Neurologie an der Mayo Clinic Arizona, Scottsdale, im November 2014 in der Fachzeitschrift The Lancet Neurology veröffentlicht hat, hatten 163 Patienten zwischen 18 und 55 Jahren teilgenommen, die in einem Zeitraum von 28 Tagen jeweils zwischen 5 und 14 Tagen an Migräne litten. Während der einen Hälfte der Patienten randomisiert eine einmalige intravenöse Dosis von 1000 Milligramm ALD403 verabreicht wurde, erhielt die andere Hälfte ebenfalls intravenös ein Placebo. Die Wirksamkeit des Antikörpers beträgt etwa 3 Monate. In Woche 5 bis 8 nach dieser Intervention hatte sich der Antikörper als signifikant wirksamer erwiesen. Er reduzierte die Zahl der Migränetage in diesem Zeitraum um 5,6 gegenüber 4,6 Migränetagen unter Placebo.

Weniger Migränetage durch Antikörper

Bei der jetzt veröffentlichten Studie handelt es sich bereits um die zweite Arbeit von Dodick und Kollegen, in der von einer signifikanten Reduktion der Migränetage durch einen CGRP-Antikörper berichtet wird. Schon länger wurde vermutet, dass eine Blockade dieses Peptids Attacken verhindern könnte. Zuvor hatten bereits mindestens fünf Firmen orale CGRP-Antagonisten primär zur Akuttherapie der Migräne entwickelt. „Diese Entwicklung wurde aber eingestellt, womöglich weil es bei einigen der CGRP-Antagonisten nach längerem Gebrauch Hinweise auf eine Beeinträchtigung der Leberfunktion bei wenigen Studienteilnehmern gegeben hatte“, erläutert Professor Hans-Christoph Diener, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Essen und Direktor des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums, in seinem Kommentar zur Studie.

Die aktuelle Untersuchung hat nun primär die Sicherheit von ALD403 getestet. Dabei fanden sich keine Unterschiede in den Nebenwirkungen, Vitalzeichen oder Laborwerten zwischen der Verum- und der Placebo-Gruppe. Diener mahnt dennoch zur Vorsicht: „CGRP kommt in allen Organen einschließlich des Gehirns in hohen Konzentrationen vor. Deshalb könnte ein Antikörper gegen CGRP langfristig unerwünschte Nebenwirkungen haben.“ Der Hersteller geht zwar davon aus, dass der Antikörper die Blut-Hirn-Schranke normalerweise nicht überwinden kann, allerdings ist noch nicht klar, ob diese Barriere bei heftigen Migräneattacken intakt bleibt.

Zu den Besonderheiten dieser Antikörper-Therapie zählte es, dass die volle Dosis als einmalige Gabe unmittelbar zu Beginn der Studie verabreicht wurde. Den primären Endpunkt ermittelten Dodick und Kollegen aber erst in den Wochen 5 bis 8. Zu den sekundären Endpunkten zählte die Reduktion der Migränetage in den Wochen 1 bis 4 sowie in den Wochen 9 bis 12, wobei die Differenz zu Placebo im frühen Zeitraum 1,7 Tage betrug und im späten Zeitraum 1,0 Tage. Insgesamt elf Patienten waren in den ersten zwölf Wochen der Studie komplett frei von Migräneattacken – sie alle waren mit ALD403 behandelt worden.

Bei allen weiteren sekundären und tertiären Endpunkten – Migräneepisoden, Migränestunden, Schwere der Migräne, Kopfschmerzhäufigkeit, Kopfschmerzscore nach HIT-6 und Migräne-spezifische Lebensqualität (MSQ) – hätten die Resultate eine numerische Überlegenheit von ALD403 gegenüber Placebo ergeben, so berichten die Autoren. Allerdings verzichteten sie darauf, die statistische Signifikanz dieser Unterschiede zu testen. Auch wurde in der aktuellen Studie die Wirkung der Antikörper nicht im Vergleich mit anderen gängigen Medikamenten zur Migräneprophylaxe getestet.

Vielversprechender Ansatz – weitere Studien notwendig

„Die Daten legen nahe, dass ALD403 als Antikörper gegen CGRP eine gewisse Migräne-prophylaktische Wirkung haben könnte“, sagt PD Dr. Förderreuther, Oberärztin an der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilian-Universität München. „CGRP spielt in der Pathophysiologie der Migräne gesichert eine Rolle und es ist daher nicht verwunderlich, dass alle bislang vorliegenden Daten darauf hindeuten, dass Substanzen, die Einfluss auf CGRP nehmen, eine Rolle in der Prophylaxe, aber auch in der Akuttherapie der Migräne spielen könnten.“ Spannend bleibe jedoch, ob die CGRP-Antagonisten peripher wirken oder die Blut-Liquor-Schranke überschreiten – denn bislang schreibt man dem CGRP vor allem zentral seine Migräne-pathophysiologische Bedeutung zu. „Wenn sich die Wirkung von Antikörpern gegen CGRP jetzt noch in randomisierten Studien der Phase 3 bestätigen ließe, so könnte dies die erste Migräne-prophylaktische Substanz sein, deren Wirkmechanismus man aus der Pathophysiologie ableiten kann“, so die Neurologin. Was die Sicherheit dieser Strategie über einen längeren Zeitraum angeht, so müssten allerdings noch weitere Daten erhoben werden.

Quellen

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen

  • PD Dr. med. Stefanie Förderreuther
    Generalsekretärin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft Neurologische Klinik der LMU München Ziemssenstrasse 1, 80336 München Tel: +49 (0)89 4400 52456 Steffi.Foerderreuther@med.uni-muenchen.de
  • Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Essen Hufelandstr. 55, 45122 Essen Tel.: +49 (0)201 7232460 E-Mail: h.diener@uni-essen.de
  • Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Frank A. Miltner c/o albertZWEI media GmbH Englmannstr. 2, 81673 München Tel: +49 (0) 89 46148622 E-Mail: presse@dgn.org
  • Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN) sieht sich als medizinische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 7.500 Mitgliedern die Qualität der neurologischen Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist seit 2008 Berlin. www.dgn.org
    1. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Martin Grond
    2. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Wolfgang H. Oertel
    3. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Ralf Gold
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle
    Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel: +49 (0)30-531437930, E-Mail: info@dgn.org
  • Pressesprecher der DGN: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

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